Ukrainisch und Belarusisch – das sind Sprachen, die meist automatisch mit dem kyrillischen Alphabet assoziiert werden. Dabei spielt das lateinische Alphabet (die sogenannte Latinica) insbesondere in der belarusischen Geschichte eine bedeutende Rolle für die Identitätsbildung. So wurde unter anderem die erste Orthographie, die Taraškevica (1918), in Latinica verfasst.
Auch im 19. Jahrhundert wurde im habsburgischen Teil der Ukraine ernsthaft darüber diskutiert, ob und in welcher Form das lateinische Alphabet für das Ruthenische verwendet werden könnte – ein bekanntes Beispiel dafür ist Joseph Jirečeks Schrift Über den Vorschlag, das Ruthenische mit lateinischen Schriftzeichen zu schreiben (1859). In der Ukraine konnte sich die Latinica jedoch nie durchsetzen – anders als in Belarus. Anfang des 20. Jahrhunderts existierte dort ein biskriptales Schrifttum, also Publikationen sowohl in kyrillischer als auch in lateinischer Schrift.
Die mit beiden Alphabeten verbundenen Konnotationen sind bis heute relevant: Während die kyrillische Schrift als „traditionell“ galt, wurde die lateinische als „westlich“ wahrgenommen – und damit als Symbol für Fortschritt und Modernität. Obwohl die ursprüngliche Verbreitung der beiden Schriftsysteme religiöse Wurzeln hatte (Stichwort Slavia Latina vs. Slavia Orthodoxa), hat sich ihre Bedeutung im Laufe der Zeit gewandelt. Heute steht hinter der Wahl der Schrift oft eine politisch-kulturelle Haltung – der Wunsch, sich vom „Anderen“ abzugrenzen.
Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 hat die Latinica an Aktualität gewonnen. Dr. Maria Katarzyna Prenner (Universität Graz) beschäftigt sich seit Langem mit Biskriptalität in der Ostslavia – insbesondere in Gemeinschaften, die sich in synchronen oder diachronen Konfliktsituationen befinden. Aktuell untersucht sie anhand von Internetkommentaren auf bestimmten Plattformen, wie häufig dort Beiträge in belarusischer oder ukrainischer Sprache in Latinica erscheinen. Besonderes Augenmerk legt sie auf die konkrete Ausgestaltung und orthographischen Prinzipien der jeweiligen Latinica-Varianten. Diese sind kulturell und politisch semantisch aufgeladen und geben Hinweise auf die Vergangenheit sowie mögliche Zukunftsperspektiven schriftsprachlicher Entwicklungen in beiden Gesellschaften.
Kürzlich hielt Dr. Prenner einen Vortrag über die Relevanz der Latinica in Belarus und der Ukraine im Zeitraum 2021–2024 im Rahmen des digitalen Diskurses auf der belarusistischen Konferenz in Warschau (07.-08. April 2025). Die Zusammenfassung des Interviews über ihren Vortrag finden Sie unter folgendem Link in englischer Sprache.