Historischer Rückblick
Von den Anfängen der Grazer Slawistik bis heute
Am 21. März 1870 wird der klassische Philologe und Slawist Gregor Krek zum Professor Extraordinarius für Slavische Philologie ernannt. Die Gründung der ersten slawistischen Lehrkanzel an der Universität Graz – Krek vertritt das Fach ab 1875 als Ordinarius – verdankt sich den Bestrebungen der Klassischen Philologie, der Germanistik und Romanistik (Italianistik), eine Lücke in der Forschung und Lehre zur vergleichenden historischen Sprachwissenschaft zu schließen, argumentiert wurde aber auch damit, dass „die Bevölkerung des steiermärkischen Unterlandes zum großen Theile dem slavischen Stamme angehört und außerdem viele Studierende slavischer Zunge aus Krain, Kroatien, dem Küstenlande und Dalmatien diese Universität besuchen und diesen doch die Gelegenheit geboten werden sollte, Vorträge über slavische Grammatik und Literatur zu hören“ (Höflechner, Die Geisteswissenschaftliche Fakultät, 48).
Markiert die Berufung Kreks den Beginn der hiesigen wissenschaftlichen Slawistik, so ist das Slowenische schon zuvor an der Universität Graz vertreten, zumal seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in der Hebammenausbildung und im Studium der Medizin (Anton Buck, Matthias Goriupp, Johann Kömm) Lehrveranstaltungen auch in slowenischer Sprache abgehalten wurden. Auf Betreiben des Juristen und Gründers der wissenschaftlichen Gesellschaft Societas Slovenica Johann Nepomuk Primitz (Janez Nepomuk Primic) wurde an der damaligen Jesuiten-Universität darüber hinaus 1811 die Errichtung einer auf drei Jahre befristeten Lehrkanzel für Slowenisch bewilligt, die Primic selbst vom 19. Februar 1812 bis zu seiner Erkrankung im Herbst 1813 innehatte. 1823 folgte ihm der Theologe und Jurist Coloman Quass (Koloman Kvas), der bis 1867 als „außerordentlicher Lehrer der windischen Sprache“ bzw. Inhaber der „Lehrkanzel für windische Sprache“ an der Universität beschäftigt war. Auch in der Theologie (Matthias Robitsch, Josef Tosi) und den Rechtswissenschaften (Johann Kopatsch, Josef Krainz, Josef Michael Skedl) wurde nach 1848 einige Zeit in slowenischer Sprache gelehrt.
Am 2. April 1892 genehmigt das k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht die Errichtung eines Seminars für slavische Philologie. Außerdem werden Mittel für eine „Fachbibliothek auf dem Gebiete der Slavistik“ bereitgestellt. Das neue Institut wurde im 2. Stock des Hauptgebäudes untergebracht. Es verfügte über zwei Zimmer und 4 Tische mit je drei Arbeitsplätzen. Die Zahl der Seminarmitglieder betrug in den ersten drei Jahren niemals weniger als zehn (Krones, Geschichte der Karl-Franzens-Universität, 64-65).
Ausgehend von politischen Bestrebungen im Wiener Reichsrat, eine außerordentliche slowenistische Professur in Graz zu schaffen, wird der Slawist und Miklošič-Schüler Karel Štrekelj im Oktober 1896 zum außerordentlichen Professor ,,der slavischen Philologie mit besonderer Berücksichtigung der slovenischen Sprache und Literatur“ ernannt. Damit erhält die Slawistik als erst zweite neuphilologische Disziplin eine zweite Professur. Ursprünglich war das Extraordinariat für den seit 1894 in Graz lehrenden Jagić-Schüler Vatroslav Oblak vorgesehen, der jedoch verstarb.
1902, nach der Emeritierung Kreks, wird der Slawist Matija Murko auf die Lehrkanzel für Slawische Philologie berufen. Karel Štrekelj, der wegen einer drohenden Abberufung nach Sofia 1908 zum ordentlichen Professor ernannt wird, folgt 1913 der Indogermanist und Slawist Rajko Nahtigal. Nachdem Murko an die Universität Leipzig berufen wird, ernannt man Nahtigal 1917 zum ordentlichen Professor. Im Dezember 1918, kurz nach seiner Habilitation, kehrt der Sprachwissenschaftler Fran Ramovš Graz den Rücken, da er einem Ruf in die Kommission zur Gründung der Universität Ljubljana folgt. Auch Nahtigal wechselt 1919 an die neugegründete Universität und beteiligt sich am Aufbau der dortigen Slawistik.
Erst 1923 endet die mehrjährige Vakanz beider Lehrstühle, indem der Leipziger Slawist Heinrich Felix Schmid auf den Lehrstuhl für slawische Philologie berufen wird; der zweite Lehrstuhl wird aufgelassen. Schmid arbeitet zur vergleichenden slawischen Rechtsgeschichte und Rechtsterminologie, ab 1929 als Ordinarius. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde er verhaftet, in den Ruhestand versetzt und zur Wehrmacht einberufen.
Ab 1941 lehrt an der Slawistik der Indogermanist und Slawist Bernd von Armin, der zu altbulgarischen Texten, südslawischer Dialektologie und zur Sternenkunde forscht. Er rechnet mit einem Ruf an die Universität Wien, wird jedoch 1944 in die Wehrmacht eingezogen und stirb bald nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft.
1943 wird der habilitierte Slawist und Ortsnamenforscher Simon Pirchegger als Extraordinarius der Universität Graz zugewiesen, von wo er 1934 aufgrund seiner Agitation für den Nationalsozialismus verwiesen worden war. 1945 wird er aus dem Dienst entlassen.
Schmid kehrt nach dem Kriegsende an die Universität Graz zurück und nimmt 1948 die ihm angebotene Professur für slawische Sprachwissenschaft und osteuropäische Geschichte an der Universität Wien an. Sein Schüler Josef Matl, der zahlreichen Schriften zur vergleichenden slawischen Literatur-, Kultur-, Sozial- und Geistesgeschichte insbesondere des südosteuropäischen Raums verfasst und Graz in den 1960er Jahren als balkanologisches Zentrum affirmiert, wird zu seinem Nachfolger bestellt. Unter Matls Ägide erfolgt die zwischenzeitliche Umbenennung des Seminars für slawische Philologie in Institut für Slawistik und Südostforschung. 1969 erhält das Institut seine heutige Bezeichnung.
Mit der Berufung des Slawisten Stanislaus Hafner wird 1964 die „zweite“ slawistische Lehrkanzel wiedererrichtet. Hafner forscht u.a. zur serbischen mittelalterlichen Literatur und zur Geschichte der österreichischen Slawistik. Er wird 1967 zum Ordinarius ernannt und initiiert 1975 zusammen mit Erich Prunč (ab 1968 Assistent an der Slawistik) 1975 das Langzeitprojekt „Inventarisierung der slowenischen Volkssprache in Kärnten“, das ab 1989 von Ludwig Karničar weitergeführt wird.
1968 wird mit Linda Sadnik erstmals eine Frau an die Grazer Slawistik berufen. Die Schülerin und Nachfolgerin Matls beschäftigt sich mit der Erforschung des Altkirchenslawischen bzw. Altbulgarischen und gilt als Begründerin der „Grazer Schule“, aus der u.a. Herbert Schelesniker (Innsbruck), Klaus Trost (Regensburg), Wolfgang Eismann (Oldenburg, Trier, Graz), Heinz Miklas (Wien), Rudolf Aitzetmüller (Würzburg) und Harald Jaksche (Mannheim, Freiburg, Bern, Graz) hervorgehen.
In den 1970er Jahren werden neue Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs geschaffen. Eine der Stellen hat ab 1970 die Slawistin Eleonore Ertl inne; es folgen die Südslawisten Manfred Trummer (1971) und Wolfgang Steininger (1972), der Russist und Balkanologe August Maximilian Hendler (1976), der Russist Heinrich Pfandl (1978) und der Russist und Slowenist Ludwig Karničar (1979).
Nach der vorzeitigen Emeritierung von Linda Sadnik 1975 wird Harald Jaksche 1978 auf den Lehrstuhl für Slawische Philologie berufen. Bis zu seiner Emeritierung 1989 arbeitet er vor allem zur russischen Sprache und Literatur der Gegenwart sowie zum Kirchenslawischen.
1988 tritt Wolfgang Eismann die Nachfolge von Stanislaus Hafner an. Er forscht zur slawischen Kultur-, Literatur und Geistesgeschichte, insbesondere Russlands und der südslawischen Länder, sowie zur Theorie der sog. kleinen Formen, slawischen Phraseologie und Parömiologie. Im selben Jahr wird Erich Prunč, der sich 1984 habilitierte, auf den Lehrstuhl für Übersetzungswissenschaft am heutigen Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft berufen, mit dem das Institut für Slawistik seit dessen Gründung im Jahr 1946 in vielen Bereichen verbunden ist.
Nachdem das Institut in der Nachkriegszeit im Meerscheinschlössl und später in der Heinrichstraße 25 untergebracht war, bezieht es 1994 die heutigen Räumlichkeiten im „Wall-Gebäude“. In diesen Jahren expandiert das Institut neuerlich und erweitert sein Forschungs- und Lehrprofil durch den Semiotiker und Slawisten Peter Grzybek (1992) und den Russisten und Westslawisten Peter Deutschmann (1995), der 2013 an die Universität Salzburg berufen wird. 1996 wird Branko Tošović auf den seit 1989 vakanten Lehrstuhl für Slawische Philologie berufen. Er forscht zur kontrastiven Linguistik und Stilistik des Bosnischen, Kroatischen und Serbischen und baut das Forschungsportal GRALIS auf.
Nach der Emeritierung von Wolfgang Eismamann vertritt Renate Hansen-Kokoruš ab 2009 die vakante Professur für Slawistik (Literatur- und Kulturwissenschaft) und wird 2011 als Universitätsprofessorin berufen. Sie forscht zu moderner bosnischer, kroatischer, serbischer und russischer Literatur, Film, Intertextualität und Fragen der Narratologie. Nach dem Ausscheiden von Renate Hansen-Kokoruš folgt Sonja Koroliov, die 2019 für die auf drei Jahre befristete Professur für Slawistik (Literatur- und Kulturwissenschaft) ernannt wurde.
Derzeit lehren am Insitut für Slawistik Andreas Leben, der 2010 auf die neu geschaffene Professur für Slawistik (Slowenistik) berufen wurde, Boban Arsenijević, der 2016 Branko Tošović auf die Professur für Slawische Sprachwissenschaft nachgefolgt ist, und Tatjana Petzer, die 2023 die Professur für Slawische Literatur- und Kulturwissenschaft antrat.
In den letzten Jahren waren bzw. sind am Institut zahlreiche junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigt, unter ihnen Svitlana Antonyuk, Agnieszka Będkowska-Kopczyk, Anastasia Chuprina, Mariya Donska, Miriam Finkelstein, Lisa Haibl, Ingeborg Jandl, Emmerich Kelih, Felix Kohl, Goran Lazičić, Claudia Mayr-Veselinović, Stefan Milosavljević, Elena Popovska, Dijana Simić, Marko Simonović, Arno Wonisch, Olesia Zalkowski, Yvonne Živković. Zu Forschung und Lehre tragen darüber hinaus die Senior Lecturer (dzt. Dagmar Gramshammer-Hohl), Lecturer (dzt. Ivana Bulić, Iryna Orlova, Michaela Winkler), die Auslandslektorinnen und Auslandslektoren sowie die Lehrbeauftragten bei (siehe aktueller Personalstand).
2020 feierte das Institut 150 Jahre Slawistik an der Universität Graz, u.a. mit der internationalen Konferenz „Slawistik aktuell“ (2.-4. Juni).
Verwendete Quellen
Grzybek, Peter (2008): Slawistik in Graz / Slavistika v Gradcu. Signal 2007/2008, 183-207.
Hafner, Stanislaus (1972): Die Slawistik an der Universität in Graz bis 1918. Anzeiger für Slavische Philologie 6, 4-13.
Hafner, Stanislaus (1985): Geschichte der österreichischen Slawistik. In: Hamm, Josef; Wytzrens, Günther (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Slawistik in nichtslawischen Ländern. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 11-88.
Höflechner, Walter (2005): Die Geisteswissenschaftliche Fakultät der Universität Graz zur Zeit von Gregor Krek. Anzeiger für Slavische Philologie 33, 43-51.
Höflechner, Walter (2006): Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Von den Anfängen bis in das Jahr 2005. Graz: Grazer Universitätsverlag, Leykam.
Kernbauer, Alois (2005): Gregor Krek und die Anfänge der Slawistik an der Karl-Franzens-Universität Graz. Anzeiger für Slavische Philologie 3, 53-70.
Krones, Franz von (1886): Geschichte der Karl-Franzens-Universität in Graz. Festgabe zur Feier ihres dreihundertjährigen Bestandes. Graz: Verlag der Karl-Franzens-Universität.
Reichmayr, Michael (2003): Ardigata! Krucinal! Ein slowenisches Schimpfwörterbuch, basierend auf Arbeiten von Josef Matl (1897-1974) zum deutsch-slawischen Sprach- und Kulturkontakt. Mit einem Vorwort von Paul Parin. Graz: Artikel-VII-Kulturverein für Steiermark.
Sadnik, Linda (1972): Die Slavistik an der Universität Graz nach 1918. Anzeiger für Slavische Philologie 6, 14-19.
Šumrada, Janez (2002): Janez Primic und die Gründung der ersten slowenistischen Lehrkanzel in Graz 1811. Anzeiger für Slavische Philologie 30, 7-20.